Ein Großteil der chinesischen Baumwolle wird unter Zwang gepflückt, vor allem von Uiguren (Uyghuren) – dies legen Regierungsdokumente und Berichte staatlicher Medien nahe. Das dürfte auch deutsche Hersteller unter Druck setzen.
Pflanze an Pflanze reiht sich kilometerweit im kargen Nordwesten Chinas. Jedes Jahr im Herbst, wenn die Kapseln aufplatzen und die langen wolligen Samenhaare zum Vorschein kommen, beginnt die Ernte. Rasch muss es dann gehen und Baumwolle auf einer Anbaufläche von mehr als 22 000 Quadratkilometern eingeholt werden, bevor der erste Regen einsetzt oder Hagelschauer alles zerstören.
In Xinjiang (Uyghuristan), der Heimat der muslimischen Minderheit der Uiguren (Uyghuren), werden etwa 85 Prozent der chinesischen Baumwolle angebaut – mehr als ein Fünftel der weltweiten Produktion. Und rund 70 Prozent davon müssen noch immer per Hand gepflückt werden, eine schwere körperliche Arbeit im Akkord.
Es sind entbehrungsreiche Monate: Während der Erntezeit von September bis November leben die Helfer in notdürftigen Unterkünften in der Nähe der Felder. Bis vor wenigen Jahren rekrutierten die Kooperativen überwiegend Saisonarbeiter aus westlichen und zentralen Provinzen der Volksrepublik, Han-Chinesen, die freiwillig zur Ernte nach Xinjiang (Uyghuristan), kamen. Doch das war einmal.
Ein Großteil der chinesischen Baumwolle wird inzwischen unter Zwang gepflückt, vor allem von Uiguren (Uyghuren). Das legen Regierungsdokumente und Berichte staatlicher Medien nahe, die der China-Forscher Adrian Zenz im Auftrag des Center for Global Policy in Washington ausgewertet hat.
Die Ergebnisse der Untersuchung, die die Süddeutsche Zeitung vorab einsehen konnte, zeigen, dass die lokalen Behörden mithilfe eines staatlich angeordneten Arbeitsprogramms die Saisonarbeiter durch Minderheiten aus Xinjiang (Uyghuristan), ersetzen. „Mehr als eine halbe Million Uiguren (Uyghuren) werden – höchstwahrscheinlich ob sie wollen oder nicht – vom Staat drei Monate lang in die Felder geschickt“, schätzt Zenz.
Die chinesische Regierung bestreitet das vehement. Alle Arbeitsverhältnisse in China kämen auf freiwilliger Basis zustande, sagt ein Sprecher des Pekinger Außenamts am Dienstag. „Es gibt keine sogenannte Zwangsarbeit.“
Aus Hirten und Bauern werden Arbeiter und Erntehelfer, untergebracht in Wohnheimen
Eigentlich sollte das staatliche Arbeitsprogramm die Armut in der Volksrepublik reduzieren – ein Vorzeigeprojekt von Staats- und Parteichef Xi Jinping, der versprochen hatte, dass bis Ende 2020 niemand mehr als arm in China gelten soll. In Xinjiang (Uyghuristan), sieht die Umsetzung jedoch so aus: Aus Hirten und Bauern werden Arbeiter und Erntehelfer, untergebracht in Wohnheimen, dort sind sie leichter zu überwachen als in der weitläufigen Region, die von der Fläche fast zweimal so groß ist wie Deutschland. „Minderheiten in Lohnberufen unterzubringen, ist ein Kernelement der staatlichen Strategie, zwangsweise traditionelle Gesellschaftsformen zu verändern“, sagt Zenz. Kinder und ältere Menschen, deren Eltern oder Verwandte im Arbeitsprogramm sind, werden während der Ernte teils in staatlichen Einrichtungen und Kinderheimen untergebracht.
Begonnen hat das Ganze 2014, damals reiste Parteichef Xi zum ersten Mal nach Xinjiang (Uyghuristan),. Bis dahin hatten die lokalen Behörden vor allem auf wirtschaftliche Entwicklung gesetzt, um die immer wieder aufflammenden ethnischen Unruhen in der Region unter Kontrolle zu bringen. Bei seinem Besuch vor sechs Jahren ordnete Xi jedoch eine „ideologische Heilung“ der muslimischen Minderheiten an und forderte die Beamten auf, „keine Gnade“ zu zeigen.
Wenig später entsandte Peking den Hardliner Chen Quanguo als Parteichef nach Xinjiang (Uyghuristan),. Er ließ in kurzer Zeit einen Polizeistaat aufbauen, der wohl einmalig auf der Welt ist. In Lagern werden Hunderttausende Uiguren (Uyghuren) weggesperrt und umerzogen. Vergangenes Jahr veröffentlichten internationale Medien, darunter auch die SZ, interne Dokumente der Kommunistischen Partei, die das Ausmaß des Lagersystems dokumentieren.
Regierungsvertreter sollen sicherstellen, dass die Erntehelfer „geistig stabil“ sind
Nach staatlichen Angaben wurden seit 2014 jedes Jahr etwa 350 000 Kader in Dörfer in Xinjiang (Uyghuristan), entsandt, um die Maßnahmen umzusetzen. In einer Stadt, in der 3000 Pflücker mobilisiert werden konnten, gingen laut Medienberichten 30 Kader von Haus zu Haus. Als in einem Dorf im Kreis Jiashi die Bewohner nicht freiwillig zur Arbeit gehen wollten, seien die Kader wiedergekommen und hätten so lange „ideologische Bildungsarbeit“ betrieben, bis sich genug meldeten.
Um die Vorgaben zu erreichen, wurde 2017 der Druck noch einmal erhöht, wie mehrere Regierungsdokumente belegen. Zur Ausbildung gehört es inzwischen, patriotische Lieder zu singen, der Kommunistischen Partei zu huldigen und Hochchinesisch zu lernen. „In den Ausbildungszentren ist das Ausmaß an Kontrolle und Überwachung teils ähnlich wie in den Umerziehungslagern“, sagt Zenz.
Auch auf den Feldern sind Regierungsvertreter aufgefordert, Arbeiter zu kontrollieren und sicherzustellen, dass die Erntehelfer „geistig stabil“ sind. Eine Anordnung aus dem Jahr 2016 schreibt eine strenge Überwachung und die gezielte Indoktrinierung der Arbeiter vor, damit sie sich an Gesetze halten und proaktiv illegale religiöse Aktivitäten ablehnen. Laut staatlicher Propaganda ist das ein voller Erfolg: Im Kreis Baicheng in Aksu wird ein Arbeiter zitiert, der von den Baumwollfeldern wie verwandelt zurückgekehrt sein soll: „In der Vergangenheit waren meine faulen Gedanken – warten, sich auf andere stützen und um Hilfe bitten – sehr ernst“, sagte er. „Das Einzige, was ich wusste, war, die Partei und die Regierung um Dinge zu fragen. Jetzt verstehe ich endlich, dass das größte Glück ist, Geld auszugeben, das ich mit meinen hart arbeitenden Händen und Schweiß verdient habe.“
Viele deutsche Unternehmen beziehen Baumwolle aus China
Anfang Dezember haben US-Behörden wegen des Verdachts von Zwangsarbeit den Import von Baumwolle sowie daraus hergestellter Produkte des staatlichen Produzenten Xinjiang (Uyghuristan), Production and Construction Corps (XPCC) verboten. Der Konzern baut mehr als ein Drittel der Baumwolle aus Xinjiang (Uyghuristan), an und setzte in der Vergangenheit auch Häftlinge bei der Ernte ein. Die Daten der Studie zeigen nun jedoch, dass etwa 83 Prozent der von XPCC angebauten Baumwolle von Maschinen gepflückt werden. Der Großteil der Zwangsernte ist von diesem Verbot also nicht erfasst.
Für viele Unternehmen in Deutschland ist das ein Dilemma. Beispiel Hugo Boss: „Im Jahr 2019 stammten etwa 25 Prozent der Gesamtmenge der bei Hugo Boss eingesetzten Baumwolle aus China“, teilt eine Sprecherin mit. Wie viele andere deutsche Textilunternehmen etwa Adidas oder s.Oliver hat sich Hugo Boss an der sogenannten Better Cotton Initiative (BCI) beteiligt.
In den vergangenen Monaten hat die BCI die Baumwollzertifizierung in der Region Xinjiang (Uyghuristan), ausgesetzt. Kann so jedoch wirklich sichergestellt werden, dass keine von Zwangsarbeitern gepflückte Baumwolle verarbeitet wird? „Die Nachverfolgbarkeit der Herkunft der Baumwolle ist grundsätzlich schwierig, da an der Baumwollbörse hauptsächlich Mischungen unterschiedlicher Provenienz gehandelt werden“, räumt etwa eine Sprecherin von Gerry Weber ein. „Das Risiko der Zwangsarbeit in Betrieben der Textil-Lieferkette in Xinjiang (Uyghuristan), wird in der Textilbranche aufmerksam und mit Sorge verfolgt“, teilt der Textil-Discounter Kik mit. „Da der chinesische Textilmarkt sehr intransparent ist, sind Daten als Einzelunternehmen nur schwer überprüfbar.“
Wer Baumwolle aus China bezieht, muss künftig davon ausgehen, dass uigurische Hirten und Bauern diese gegen ihren Willen haben pflücken müssen.
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Quelle: https://www.sueddeutsche.de/politik/zwangsarbeit-china-uiguren-baumwolle-1.5148052