Karawanen im Feindesland

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China steckt Milliarden in ein neues Netzwerk an „Seidenstraßen“: Eisenbahnstrecken, Autobahnen und Pipelines sollen seinen Einfluss bis nach Zentralasien und Europa ausdehnen. Doch bis es soweit ist, gibt es noch ein paar ernste Probleme

 

ezcun ist der Anfang vom Ende Chinas. Hunderte von Autos, Lastwagen und Bussen halten hier jeden Tag, Menschen steigen aus, aber niemand bleibt länger als nötig. Hinter dem Checkpoint mit seinen Betonsperren und Fußgängerbrücken aus Stahl, liegt die Karakorum-Fernstraße. Die Route, die als eine der schönsten Straßen der Welt gilt, führt auf fast 4000 Metern Höhe durch das Hochgebirge des Pamir bis nach Pakistan. Hier in Gezcun herrscht allerdings erst einmal Stillstand: Mit Kies und Geröll beladene Lastwagen warten darauf, abgefertigt zu werden, Busfahrer lassen ihre Passagiere aussteigen und sich in die lange Schlange einreihen, die neben der staubigen Straße zum Kontrollposten führt. Um den Checkpoint ist ein schmutziges Straßendorf gewachsen. Kleine Läden für Wasser und Proviant gibt es, unter einem Zeltdach verkauft ein Händler Melonen und vor einigen der Wellblechverschläge und Lehmhütten werben Schilder für Mittagessen und Nudelgerichte. Aber niemand sitzt an den Tischen; die Reisenden wollen den Ort möglichst schnell wieder verlassen.

Der Transitverkehr durch Gezcun ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen, vor allem wegen der vielen Baufahrzeuge und Schutttransporter. Weiter unten hat sich die ehemals beschauliche Straße durch das dramatische Flusstal mit den roten Bergen in eine breite staubige Baupiste verwandelt. Aus dem seit Jahrtausenden genutzten Weg, der lange die einzige Verbindung Chinas mit dem indischen Subkontinent war, soll eine mehrspurige Autobahn nach Pakistan werden. Hinter Gezcun gehen die Arbeiten weiter; fast zwei Stunden dauert die Fahrt über die ausgedehnte Baustelle. Weiter oben ragen bereits gewaltige Betonpfeiler in den Himmel, über sie soll künftig die Straße durch das enge Tal geführt werden.

Der neue Super-Highway, der hier entsteht, soll Teil der Seidenstraße für das 21. Jahrhundert werden und ein Baustein in Chinas Plan, einen Transportkorridor entlang der historischen Seidenstraßen-Route bis nach Europa und ans Mittelmeer zu bauen – mit einem Abzweig auf den indischen Subkontinent. Das geplante Netz aus Autobahnen, Eisenbahnstrecken und Pipelines wird die Industriezentren im Landesinneren mit den Absatzmärkten in Europa verbinden und China besseren Zugang zu den Öl-, Gas- und Rohstoffvorkommen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion schaffen. Das Projekt soll nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die politische Macht Chinas weit über die Staatsgrenzen hinaus festigen. Es könnte den eurasischen Kontinent, auf dem beinahe zwei Drittel der Weltbevölkerung leben, unter Pekings Führung zusammenschweißen.

Wenn die ambitionierten Pläne aufgehen. Denn so gewaltig wie der Anspruch, ist auch das Risiko, zu scheitern. Jenseits der eigenen Grenzen arbeitet die Führung in Peking mit Ländern in Zentralasien, die politisch instabil und untereinander zerstritten sind. Oft sind deren Eliten korrupt und die Regierungen freuen sich zwar über Infrastrukturhilfen aus China, die Bevölkerung aber lehnt den chinesischen Einfluss ab. In China selbst ist das Projekt mit gewaltigen Hoffnungen verbunden: Abgelegene, bitterarme Regionen sollen Anschluss finden und ähnlich prosperieren wie die reichen Orte an der Ostküste. Der Besuch in Gezcun und anderen Orten entlang der geplanten Strecke zeigt, dass diese Versprechen nicht immer eingelöst werden können.

Tatsächlich soll die neue Seidenstraße genauso wenig wie das historische Vorbild nur eine einzige Route werden, sondern ein ganzes Netz: Neben dem Strang durch Zentralasien nach Europa soll eine nördliche Strecke entlang der bestehenden Transsibirischen Eisenbahn führen, eine südliche Route auf den indischen Subkontinent und Abzweige in südostasiatische Nachbarstaaten wie Laos und Burma. Zugleich schafft Peking sich eine Perlenschnur maritimer Stützpunkte im Indischen Ozean und Richtung Europa.

Der Verlauf des zentralen Strangs wird wohl mit Absicht vage gehalten. Im November veröffentlichte die Nachrichtenagentur Xinhua, ein Sprachrohr der Regierung, eine mögliche Streckenführung, die allerdings eher von Symbolkraft denn praktischen Erwägungen beeinflusst scheint: Die Strecke berücksichtigt über wilde Schlenker alle zentralasiatischen Staaten, führt über den Iran nach Istanbul, weiter nach Moskau und von dort bis nach Rotterdam an die Nordseeküste. Die tatsächliche Route wird in Peking offenbar permanent überdacht. Etwa, weil sie teilweise durch Gebiete in Afghanistan, Syrien und dem Irak führt, die von der Terrormiliz IS besetzt werden, oder weil die Beziehungen zwischen Europa und Russland durch die Ukraine-Krise erkaltet sind.

Symbolisch bedeutend ist der Ausgangspunkt der veröffentlichten Route: Xi’an, über viele Jahrhunderte immer wieder die Hauptstadt des Kaiserreichs und heute bekannt für die große Terrakottaarmee. Hier begannen die Kamel- und Pferdekarawanen ihre Reise auf der historischen Seidenstraße, einem Netz aus Pfaden, die seit vorchristlicher Zeit bereist wurden: durch die westchinesischen Wüsten, über drei Gebirgszüge und durch die dünn besiedelten Steppen Zentralasiens auf den heutigen Staatsgebieten von Kirgisien und Kasachstan.

Die geplante stählerne Seidenstraße aus Hochgeschwindigkeitsstrecken führt von Xi’an zunächst nach Lanzhou, einer der mehr als 150 Millionenstädte in China. „Städte zweiten Ranges“ werden diese Orte genannt, die außerhalb Chinas kaum jemand kennt. Die gläsernen Hochhäuser in der Innenstadt von Lanzhou können denn auch nicht davon ablenken, dass es in der 2,5-Millionen-Stadt eher provinziell zugeht. Die Anzüge sitzen schlechter als im kosmopolitisch geschliffenen Shanghai, die Pullover sind gröber gestrickt, beim Bankett mit ausländischen Gästen reißen die Gastgeber Herrenwitze, und über den Pissoirs in den Herren-Toiletten hängen anzügliche Cartoons mit dickbusigen Damen.

Chinaweit bekannt für ein Gericht aus handgezogenen Nudeln, kämpft Lanzhou wie die anderen Metropolen des Landes mit den unappetitlichen Folgen des wirtschaftlichen Turbowachstums. Die Luft der in einem schmalen Flusstal gelegenen Stadt gilt als die am stärksten belastete in ganz China und die WHO zählt sie zu den zehn gefährlichsten der Welt. Die Öl-Raffinerien, die Gummifabriken und die große Leder- und Textilindustrie hinterlassen ihre Spuren – auch im Trinkwasser. Behördlich verbrieft ist es seit Monaten nicht genießbar, weil mit dem Wasser krebserregende Lösungsmittel aus den Hähnen fließen. „Trinken Sie auf keinen Fall das Wasser von hier“, warnt Tang Wenbing*, Film-Student an einer der lokalen Universitäten. „Und wenn Sie Flaschenwasser kaufen, kaufen Sie nicht Nongfu oder andere chinesische Marken. Sie müssen immer ausländische Marken kaufen.“

Die Umweltprobleme illustrieren, wie sich die volkswirtschaftliche Landkarte Chinas verändert. Die stark gestiegenen Lohnkosten in den florierenden Küstenmetropolen treiben die produzierende Industrie Richtung Westen ins Landesinnere, wo Löhne, Mieten und Energie günstiger sind. Befeuert wird die Entwicklung zusätzlich von der zur Jahrtausendwende ausgerufenen „Go West“-Strategie der Zentralregierung, die mit milliardenschweren Investitionen und Subventionen die materielle Kluft zwischen reicher Ostküste und dem teilweise bitterarmen Landesinneren schließen will.

Von hier aus ist es allerdings für Produzenten komplizierter, ihre fertigen Produkte zu europäischen Kunden zu bringen. Sie zunächst Tausende Kilometer zu den südöstlichen Häfen zu fahren, um sie von dort in den Rest der Welt zu verschiffen, ist zeitaufwendig und teuer. Die bis zu zwei Monate lange Reise dauert für die Produzenten etwa von Computern, Smartphones oder modischen Textilien eine gefühlte Ewigkeit. Der Computer-Produzent HP hat deshalb vor einigen Jahren begonnen, seine Laptops aus den Fabriken im Landesinneren per Zug über Kasachstan, Russland und Weißrussland nach Hamburg zu den europäischen Kunden zu schicken. Das dauert wegen der langsamen Züge immer noch drei Wochen, funktioniert aber inzwischen so gut, dass auch andere Hersteller diesen Weg nutzen.

Künftig sollen die Güter auf einer Hochgeschwindigkeitsstrecke Richtung Zentralasien rollen; die dafür nötige Verbindung entsteht gerade entlang der bestehenden Bahnstrecke zwischen Lanzhou und der nordwestlichen Provinz Xinjiang (Uyghuristan). Die Trasse folgt dem Hexi-Korridor, der im Nordwesten Chinas durch menschenfeindliches Gebiet führt. Reisende, die auf dem langen staubigen Streifen zwischen den Bergen und der Wüste Gobi wanderten, um von Zentralchina zu den Steppen Zentralasiens zu gelangen, mussten sich in früheren Zeiten von Oase zu Oase kämpfen. Auf dem größten Teil des Wegs querten sie über viele Hundert Kilometer eine trockene Ödnis aus Steinen und Sand. Staubig ist die fast 1000 Kilometer lange Strecke noch immer, allerdings verlaufen heute die Autobahn G30 und gleich zwei Bahnstrecken durch die graue Steinwüste.

Der Verkehr auf der G30, für die mit großem Aufwand kilometerlange Tunnel gebohrt und gesprengt wurden, ist noch sehr überschaubar. Wer hier wochentags Richtung Nordwesten fährt, dem kommen auf der gegenüberliegenden Spur in einer Minute nur eine Handvoll Autos entgegen. Wer bei der Stadt Jiayuguan von der G30 abfährt, kann hier das bisherige Wachstumsmodell dieser Region besichtigen. Sie diente bisher vor allem als Rohstofflager für die Industrie an der Küste. Die Stadt mit ihren knapp 300.000 Einwohnern existierte vor wenigen Jahrzehnten in dieser Form noch gar nicht. Sie entstand, weil hier Eisenerz gefunden wurde. Der Großteil der Menschen arbeitet denn auch im Stahlwerk oder an anderer Stelle im Produktionsprozess. Der faulig schweflige Geruch der Hochöfen liegt über der Stadt, hängt zwischen den aufragenden Produktionsanlagen und dem großen Kühlturm des Kraftwerks. Er zieht auch in den neuesten Teil der Stadt, zu den Dutzenden schnell hochgezogenen Wohntürmen, dem großen Holiday-Inn-Hotel und den gewaltigen Einkaufszentren.

Auf dem Weg aus der Stadt zeigt sich, wie bitterarm große Teile des Landesinneren noch sind. Zwanzig Kilometer von den Wohnblocks und Shopping-Zentren der Stahlstadt entfernt, wohnen Bauernfamilien noch in Häusern aus gestampftem Lehm und transportieren ihre Ernte auf von Pferden gezogenen Holzkarren. Je nach Rechenart leben noch immer 100 bis 200 Millionen Chinesen in absoluter Armut. Nachdem der Frachtcontainer Chinas Wirtschaftswunder an der Küste erst möglich gemacht hat, soll die stählerne Seidenstraße dieses Wunder für das Landesinnere wiederholen.

Sie folgt auf ihrem Weg der historischen nördlichen Seidenstraße durch die autonome Provinz Xinjiang (Uyghuristan)entlang des Randes der Taklamakan-Wüste, der zweitgrößten Sandwüste der Erde. Von der reichen Ostküste aus betrachtet, liegt Xinjiang (Uyghuristan) am Ende der Welt. Hier grenzt China an Pakistan, Afghanistan, Russland, die Mongolei und die zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan. Das ehemalige Ostturkestan ist größer als Westeuropa, aber hier leben nur rund 22 Millionen Menschen. Der Großteil sind nicht Han-Chinesen, sondern ethnische Minderheiten: Im Norden Kasachen und Mongolen, im entfernten Westen Tadschiken und rund um die gewaltige Taklaman-Wüste, die etwa zwei Fünftel von Xinjang bedeckt, leben vor allem Uiguren (Uyghuren) . Traditionell sind die mehrheitlich muslimischen Uiguren(Uyghuren) die größte Bevölkerungsgruppe – aber vermutlich nicht mehr lange. Chinas Zentralregierung siedelt seit Mitte der 50er-Jahre gezielt Han-Chinesen hier an, die im Osten des Landes die größte ethnische Gruppe bilden.

Die Siedlungspolitik sorgt seit Langem für Spannungen zwischen Han und Uiguren (Uyghuren) , die sich kulturell und sozial bedrängt fühlen. In den vergangenen Jahren hat die Gewalt in der Region zugenommen, das vergangene Jahr gilt als das blutigste seit Langem: 29 Tote bei einem Messerangriff im März in Kunming; drei Tote und fast 80 Verletzte bei einer Messerstecherei im April in der Provinzhauptstadt Ürümqi, 43 Tote bei einem Anschlag auf einem Markt dort, Dutzende Tote bei Unruhen im September.

Kashgar, die letzte Großstadt vor den Bergen, die China im Nordwesten begrenzen, gilt als Brennpunkt der ethnischen Spannungen zwischen Uiguren (Uyghuren) und Han-Chinesen. Polizisten und Sicherheitsleute sind hier allgegenwärtig. Auf dem Rollfeld des Flughafens parken fünf militärische Drohnen, am Gepäckband warten schwarz Uniformierte mit automatischen Waffen auf die Reisenden. Das gewaltige Mao-Denkmal im Zentrum wird von Polizisten mit Bajonetten bewacht. Und überall Schlagstöcke: An den Rezeptionen der Hotels, an den Eingängen von Supermärkten, vor Restaurants – an öffentlichen Orten, die von vielen Menschen besucht werden, stehen sie offen zur Schau gestellt jederzeit bereit. Zusammen mit Schutzschilden und Helmen für Sicherheitskräfte.

Dass in Kashgar mehrheitlich Muslime leben, ist nicht zu übersehen. Hier scheint man China bereits verlassen zu haben – nicht nur wegen der Rufe des Muezzins, sondern auch wegen der gewaltigen Moschee, den Basaren und den vielen Teeschenken. In der Oase trafen einst die Handelsrouten, die die Wüste nördlich und südlich umrundet hatten, wieder aufeinander. Noch heute scheint für besondere Anlässe halb Zentralasien nach Kashgar zu kommen: An den Tagen vor dem islamischen Opferfest stehen überall in der Altstadt Bauern, die ihre Schafe verkaufen wollen. Es ist ihr Geschäft des Jahres, denn jede Familie, die etwas auf sich hält, schächtet zum Opferfest ein Schaf. Frauen mit sesambestreuten Fladenbroten unter dem Arm drängen sich vorbei an den Schafen, die auf den Straßen und Gehwegen angeboten werden. Am Abend stehen nur noch wenige Bauern auf den mit Dung und Stroh verkrusteten Straßen und bieten alte und schwache Tiere an. Was sie heute nicht mehr verkaufen, müssen sie wieder mitnehmen in die Berge.

Am nächsten Morgen ruft der Muezzin zum Festtagsgebet. Die säkulare Regierung hat den in der muslimischen Welt am Freitag gefeierten Festtag auf den Sonntag gelegt. Auf dem Platz vor der Moschee rollen die ersten Gläubigen in der Morgendämmerung ihre Gebetsteppiche aus, als ein Vertreter der lokalen Regierung, umringt von Polizisten, eintrifft. Fotografen, die er mitgebracht hat, machen Fotos von ihm vor der Moschee. Dann dreht der Politiker sich um, spuckt kurz auf den Boden und geht mit dem Begleitschutz schnell wieder davon.

Eine Stunde später ist auf dem gewaltigen Rund vor der Moschee kein Platz mehr frei. Die Massen, die sich während des Gebetes gen Mekka verneigen, lassen erahnen, wie eng die Bindung dieser Region an Zentralasien und die muslimische Welt ist. Hier, wo Peking fünf Flugstunden entfernt ist, und die Einheimischen einer inoffiziellen eigenen Zeitrechnung folgen, ist es schwierig zu sagen, wo der chinesische Kulturkreis aufhört und Turkestan beginnt.

Die chinesische Regierung will denn auch Kashgar zu einem wichtigen Umschlagplatz für den neuen Seidenstraßengürtel machen. Dafür investiert Peking nicht nur in eine neue Universität und in die lokale Textilindustrie: Wer von Kashgar aus in Richtung Pamirgebirge und Gezcun fährt, kommt an der blauen Kuppel von Apandiland vorbei, einem Freizeitpark, der als Westchinas Disneyland beworben wird und in diesem Jahr öffnen soll. Ob sich allerdings chinesische Touristen in diese Region trauen werden, solange hier kein Frieden herrscht, ist fraglich. Und vom Frieden in der Region wird auch abhängen, ob sich Xinjiang (Uyghuristan) tatsächlich zur Drehscheibe Eurasiens entwickeln wird.

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Quelle: http://www.welt.de/print/wams/wirtschaft/article139139313/Karawanen-im-Feindesland.html