Aus der Geschichte lernen? China, Japan und das Holocaust-Mahnmal

 

10.03.2014, 07:50 Uhr  ·  China will, dass Japan sich wie Deutschland glaubwürdig für den Zweiten Weltkrieg entschuldigt. In China selbst allerdings darf über große Teile der Geschichte gar nicht öffentlich gesprochen werden. Das chinesische Interesse an deutscher Vergangenheitsaufarbeitung ist zweischneidig.

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© TwitterQuelle: https://twitter.com/XHNews/status/426536342798221312/photo/1

„Nur eine korrekte Haltung gegenüber der Geschichte kann in die Zukunft führen“, twitterte Xinhua, Chinas staatliche Nachrichtenagentur, am 24. Januar. Um die Botschaft zu verdeutlichen, hängte sie dem Tweet ein Kultbild an: Willy Brandt auf den Knien in Warschau, 1970.

Bravo. Und doch sehr überraschend, denn Xinhua ist das Sprachrohr eines Einparteienstaates, in dessen Schulbüchern die größte von Menschen verschuldete Hungersnot aller Zeiten, der „Große Sprung“ 1958-1962 mit rund 45 Millionen Todesopfern genauso wenig vorkommen wie die Toten des Massakers am Tiananmen-Platz 1989. Die Verbrechen der chinesischen Geschichte sind in China Nicht-Ereignisse, im öffentlichen Raum tabuisiert.

Gerichtet war Xinhua’s Botschaft allerdings nicht an das eigene Volk, sondern an Japan: China klagt Japan regelmäßig an, sich von seiner Vergangenheit reinwaschen zu wollen, seine Verbrechen im Zweiten Weltkrieg unter den Tisch zu kehren und bis heute mit dem „Militarismus“ zu liebäugeln. Und hier weiß die Regierung das Volk hinter sich: Sehr viele Chinesen sind wütend und aufgebracht über den japanischen Premierminister Shinzo Abe, der am 26. Dezember den Yasukuni Schinto Schrein besuchte, um für die Seelen der japanischen Soldaten zu beten – Soldaten, die während des Krieges um die zehn Millionen Chinesen getötet hatten.

Xinhua’s Botschaft ist so zu verstehen: Abe, Enkel des Nobsuke Kishi, einem Industrieminister in der japanischen Kriegsregierung unter General Hideki Tojo, der von den Alliierten Besatzungstruppen als mutmaßlicher Kriegsverbrecher der Klasse A bis 1948 inhaftiert war, soll sich endlich hinknien und symbolisch für Japans Sünden der Vergangenheit Buße tun, so wie es Willy Brandt getan hat.

Mit dem Besuch des Yasukui Schreins, glauben die Chinesen, zeigte Abe, dass es ihm nicht wirklich Leid tut. Der Schrein unterscheidet nicht zwischen „guten“ und „bösen“ Soldaten, er würdigt sie alle. Auf seiner Webseite heißt es, in Worten so zart wie Schneeflocken: „Ich versichere Euch, die Ihr kämpftet und starbt für Euer Land, dass Eure Namen in diesem Schrein in Musashino leben werden.“ Vierzehn Hauptkriegsverbrecher werden hier verehrt. Für Chinesen ist das so, als würde Angela Merkel in einer Kirche für Nazis und SS-Chargen beten. Unmöglich, abstoßend, ketzerisch.

Aber in Ostasien ist dieser Tage keiner besser als die anderen.

Vor einigen Jahren gab es in China einen Versuch, auf einer Konferenz die unglückliche chinesisch-japanische Kriegsvergangenheit unter Historikern zu diskutieren. Initiator war Chan Koonchung, ein in China geborener, in Hongkong aufgewachsener, zur Zeit in Peking lebender kosmopolitischer Intellektueller, Schriftsteller und Aktivist. Chan hatte zuvor in Hongkong und Taiwan „The Fat Years“ veröffentlicht, einen in naher Zukunft spielenden surrealistischen Roman, in dem den sowieso schon durch Erfolgsrausch und Wirtschaftsboom gedopten Chinesen ein ganzer Monat ihrer Erinnerung abhanden kommt. Die Regierung versetzt das Trinkwasser mit einer Substanz, die eine kollektive Amnesie hervorruft, um einen Aufstand, der in dieser Zeit niedergeschlagen wurde, ungeschehen zu machen.

Chan Koochung befürchtete schon 2009, dass die aus der Kriegsvergangenheit rührenden Ressentiments und Frustrationen zwischen China und Japan zu großen Schwierigkeiten führen würden – vielleicht sogar zu einem neuen Krieg, wie er jetzt von gut informierten Leuten in Peking aus Anlass des Konflikts um die Diaoyu- (japanisch: Senkaku-)Inseln für möglich gehalten wird. Chan interessierte bereits vor Jahren, was China und Japan von Deutschland lernen könnten; wie Deutschland seine Geschichte durchgearbeitet hat und als ein besseres, für seine Nachbarn nicht mehr bedrohliches Land hervorging.

Aber die Konferenz kam nicht zustande. Sie scheiterte nicht an den Historikern in Japan. Sie scheiterte daran, dass sich in der Volksrepublik China keine Historiker fanden. Die Universitäten hier werden von der Partei betrieben, und die Partei kontrolliert die Forschung durch Verteilung der Mittel. Es kann nur innerhalb von staatlich vorgegebenen Parametern geforscht werden. Im Privaten und auch im Unterricht gibt es offene und lebendige Diskussionen. Doch öffentlich, auch fachöffentlich, kann man sich zu den schwierigen Themen nicht äußern. Auszusprechen, dass mehr Chinesen dem Kommunismus zum Opfer fielen als den Japanern? Undenkbar. Die Historiker würden ihren Job verlieren.

China, der Einparteienstaat, verfälscht Geschichte. Routinemäßig, beiläufig, als hätte er selbstverständlich das Recht dazu. Und wirft anderen Geschichtsfälschung vor.

Millionen junger Chinesen wissen rein gar nichts über riesige Teile ihrer Geschichte. Eine Freundin von mir, Ärztin, Mitte dreißig, Redakteurin einer bedeutenden Fachzeitschrift in Peking, weiß nicht, was in Peking am 4. Juni 1989 passiert ist. Viele wissen es nicht. Aber sie reisen ins Ausland, ihr Land verbindet sich mit dem Rest der Welt. Ihre Wissenslücken wirken dort irritierend und erzeugen Spannungen.

Vor kurzem berichtete Reuters von den Schwierigkeiten, die der chinesische Wunsch den Deutschen bereitete, beim Staatsbesuch des Präsidenten Xi Jinpings Ende März möglichst viel Zweiter Weltkrieg- und Holocaust-Gedenkstätten zu sehen. Die deutsche Regierung will nicht, dass die Holocaust-Erinnerung instrumentalisiert wird, um von Deutschland aus Japan zu brüskieren. Chan Koochung jedoch hat gemischte Gefühle. „Warum eigentlich“, sagt er, „sollten wir ihn vom Holocaust Mahnmal fernhalten?“ Chan denkt, dass Xi dort etwas lernen könnte.

Übertragung aus dem Englischen: Marion Detjen

http://blogs.faz.net/10vor8/2014/03/10/tun-mit-der-geschichte-china-japan-und-das-holocaust-mahnmal-816/

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