Wie China gefangene Uiguren (Uyghuren) zwingt, sich selbst zu bezichtigen

Mehr als eine Million Uiguren (Uyghuren) sind in Chinas Internierungslagern in Xinjiang (Uyghuristan)  verschwunden. Nach einer exklusiven DW-Recherche wurden viele dort in Scheinprozessen gezwungen, sich ihrer „Vergehen“ selbst zu bezichtigen.


Die Frau starrt auf das Foto auf dem Bildschirm, auf die Ansammlung von Gebäuden, umgeben von einem hohen Zaun: Dort, unter dem hohen Fahnenmast, hätten die morgendlichen Appelle stattgefunden. Und in dem Gebäude daneben, sie beugt sich kurz vor, die „Gerichtsprozesse“: Scheinprozesse, ohne jeglichen juristischen Beistand. Ohne die Möglichkeit zur Verteidigung oder zum Einspruch.

Sie beginnt zu weinen, lautlos, minutenlang, wischt sich mit dem Handrücken über die Augen.

Die Erinnerungen an die Zeit, die sie in einem chinesischen Umerziehungslager verbracht hat, wühlen sie auf: die Willkür, die Verhöre, für die die Frauen, mit denen sie sich eine Zelle teilte, oft nachts aus dem Schlaf gerissen wurden, der Schmutz und die ständige Angst. Und dann war da dieser eine Tag, an dem sie gezwungen wurde, sich zu einer Tat zu bekennen, die sie nie begangen hatte.

„Es ist schrecklich dort, sie rauben dir auch den letzten Fetzen Freiheit“, erzählt sie. Sie ist, das merkt man, traumatisiert von ihrer Zeit im Lager, von Alpträumen geplagt, und hat, so sagt sie es, die Lust am Leben verloren.

Die Frau ist Uigurin, Teil einer überwiegend muslimischen Minderheit, die in der Provinz Xinjiang (Uyghuristan)  im Nordwesten Chinas lebt, weit entfernt von Peking. Kulturell und ethnisch haben die Uiguren (Uyghuren)  mehr gemein mit ihren Nachbarn in Kasachstan oder Kirgisistan als mit den Han-Chinesen, die in China die Mehrheit stellen. Von Seiten der kommunistischen Führung werden die Uiguren (Uyghuren), die seit langem nach mehr Unabhängigkeit streben, in sämtlichen Lebensbereichen diskriminiert, schikaniert und überwacht.

Angeblich, weil von ihnen ein Sicherheitsrisiko ausgeht. So wie etwa 2009, als es in Xinjiangs (Uyghuristan)  Provinzhauptstadt Urumqi zu gewaltsamen Protesten von Uiguren (Uyghuren)  gegen Han-Chinesen kam und mindestens 140 Menschen getötet wurden. Oder 2014, als Selbstmordattentäter einen Anschlag auf einen Marktplatz verübten und mehrere Dutzend Menschen starben. Auf diese Terror-Gefahr beruft sich Peking.

Scheinprozesse in den Umerziehungslagern

Ende 2016 begann die chinesische Regierung, immer rigoroser gegen die Uiguren (Uyghuren)  vorzugehen: Seitdem ist ein umfassendes Netz aus Internierungslagern und Gefängnissen entstanden. Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten zufolge sind dort mindestens eine Million Menschen interniert. Wer aus einem Lager entlassen wird, wird weiter auf Schritt und Tritt überwacht und oft gezwungen, in Fabriken zu arbeiten, die zum Teil für ausländische Unternehmen produzieren – auch deutsche.

Die chinesische Regierung spricht von „freiwilligen Berufsbildungszentren“, die „extremistisches Gedankengut“ bekämpfen sollen. In Wirklichkeit werden Uiguren (Uyghuren)  dort gezwungen, ihrer Religion und Kultur abzuschwören und Mandarin zu lernen. Das beweisen auch interne Regierungsdokumente, die durchgesickert sind.

Die Verhaftungen sind scheinbar willkürlich: ein Koran im Bücherregal kann reichen, um auf Monate, sogar Jahre zu verschwinden. Oft können Verwandte und Freunde nur mutmaßen, warum man ihre Angehörigen oder Arbeitskollegen hat verschwinden lassen.

Und in einigen Fällen, das hat die DW in einer monatelangen Recherche herausgefunden, müssen Gefangene in den Lagern sogar ihre eigenen „Straftaten“ auswählen: Man habe ihr, erzählt die Frau, eines Tages eine Liste mit 75 angeblichen Vergehen gegeben – und sie gezwungen, mindestens eines davon auszusuchen. Sie sollte also nachträglich selbst bestimmen, für welche Tat man sie interniert hatte.

Die Vergehen auf der Liste, das bestätigen auch drei andere ehemalige Gefangene, seien oft alltägliche Dinge gewesen: ein Kopftuch zu tragen, zu beten oder Verwandte im Ausland zu kontaktieren.

Behörden bestrafen religiöse und kulturelle Praktiken

„Ich habe ihnen gesagt, dass ich nichts davon getan hatte, aber sie haben mich gezwungen, ein Vergehen zu wählen. Sie haben uns gedroht: Du bleibst solange hier, bis du eins auswählst“, erzählt die Frau, deren Identität aus Sicherheitsgründen geheim bleiben muss. Sie lebt heute, wie die anderen Gefangenen, mit denen die DW gesprochen hat, im benachbarten Kasachstan. Vermutlich haben die chinesischen Behörden den Ausreisen zugestimmt, nachdem die Regierung und Verwandte dort Druck ausgeübt hatten. Doch der Aufenthaltsstatus der Frau ist noch nicht gesichert – und sie fürchtet um ihre Verwandten in Xinjiang (Uyghuristan),  die Repressalien ausgesetzt sein könnten.

Sie habe schließlich, so erzählt sie es, unter Zwang den Besuch im Ausland als ihr „Vergehen“ gewählt. Sie war vor ihrer Internierung mit ihrem Mann nach Kasachstan gezogen. Während eines Besuchs bei ihren Verwandten zu Hause in Xinjiang (Uyghuristan)  wurde sie dann verhaftet.

Die Tatsache, dass die meisten der 75 „Vergehen“ auf der Liste religiöser Natur waren, deutet darauf hin, dass die Behörden die religiösen und kulturellen Praktiken der Uiguren (Uyghuren)  verfolgen, wie Aktivisten und Menschenrechtler schon seit langem behaupten – und eine Recherche der DW Anfang des Jahres ebenfalls bekräftigt hat. China, so scheint es, versucht, die Uiguren (Uyghuren)  auf Linie zu bringen und ihre Kultur und Religion auszulöschen.

„In zwei Jahren bin ich tot“

Nachdem sie ihre „Verbrechen“ ausgewählt hatten, so berichten es die ehemaligen Gefangenen, wurden sie in einen Raum gerufen – zu einem Scheinprozess ohne Verteidigung, Öffentlichkeit oder der Möglichkeit, Widerspruch einzulegen. Die Prozedur unterschied sich offenbar von Lager zu Lager: Mal wurden Häftlinge einzeln verurteilt, mal mehrere auf einmal. In einem Lager waren auch Angehörige anwesend. 

Den inhaftierten Männern und Frauen wurden vorgefertigte Urteilssprüche und die Länge ihrer Haftstrafe verkündet. „Dann mussten die Gefangenen sagen: Ich bereue mein Vergehen, ich verspreche, dass ich meine Missetaten nicht wiederholen werde“, so die Frau, die eine zweijährige Strafe bekam. Sie erinnert sich genau an den Moment, als man ihr das Strafmaß mitteilte, daran, wie auch der letzte Funke Hoffnung in ihr starb: „Da dachte ich: In zwei Jahren bin ich tot.“

Trotzdem hatte sie Glück: Andere wurden zu zehn oder mehr Jahren verurteilt. Die langen Strafen, so berichten die ehemaligen Gefangenen übereinstimmend, erhielten die, die religiöse „Vergehen“, etwa regelmäßiges Beten, von der Liste ausgewählt hatten.

Und es waren diese Gefangenen, die daraufhin verschwanden, die nachts aus den Schlafsälen oder tagsüber aus den Klassenzimmern geholt wurden. Wohin sie gebracht wurden, wissen die befragten Gefangenen nicht. Ein Umerziehungslager, so sagt es eine Frau trocken, „ist kein Ort, an dem man Fragen stellen kann.“

Aber es ist wahrscheinlich, dass die Verurteilten entweder in die Hochsicherheitstrakte der Lager geschickt wurden – oder ins Gefängnis. Seit 2018 hat die Regierung, das ergeben Recherchen des „Australian Strategic Policy Institute“, die Lager mit der höchsten Sicherheitsstufe ausgebaut, während andere Lager abgebaut oder zur Unterbringung von Zwangsarbeitern umgebaut wurden.

Die vier ehemaligen Gefangenen, die die DW über mehrere Monate interviewt hat, haben die „Prozesse“ in drei verschiedenen Lagern in Xinjiang (Uyghuristan) erlebt. Das Recherche-Team konnte diese drei Lager anschließend mit Hilfe von Satellitenbildern und öffentlich zugänglichen Quellen, wie etwa Ausschreibungen, ausfindig machen.

Uiguren (Uyghuren) völlig der Willkür von Bürokraten ausgesetzt

Die Schilderungen der befragten Gefangenen decken sich in wesentlichen Aspekten – und lassen darauf schließen, dass die Scheinprozesse in Xinjiang (Uyghuristan) vermutlich weit verbreitet sind. Das, so die Ansicht von mehreren Experten, ist auch aufgrund der zentralisierten Kontrolle der Lager wahrscheinlich.

Obwohl er selbst noch nicht von diesen Scheinprozessen gehört hatte, glaubt Rian Thum von der britischen Universität Nottingham, dass es sehr „plausibel“ ist, dass sie tatsächlich stattgefunden haben. Auch außerhalb der Lager, so Thum, hätten Uiguren (Uyghuren) keine Chance auf faire Prozesse. „Sie sind völlig der Willkür von Bürokraten und Parteimitgliedern ausgesetzt, die sie einfach verschwinden lassen können.“

Auch Verwandte von anderen uigurischen Häftlingen erzählen von scheinbar willkürlichen „Verfahren“, davon, dass Gefangene zwischen Gefängnissen und Umerziehungslagern hin und her gereicht werden. Eine Frau, die in Deutschland lebt, berichtet, dass mehrere Verwandte zweimal zu einer Haftstrafe verurteilt worden seien, nur um dann wieder in ein Umerziehungslager geschickt zu werden: „Die spielen mit den Gefangenen.“

Chinas Antwort

Wiederholte Anfragen mit einem detaillierten Fragenkatalog an die chinesische Botschaft in Berlin und das Außenministerium in Peking blieben unbeantwortet. Stattdessen schickte die diplomatische Vertretung in Berlin einen Link zu einer Erklärung, die Ende 2019 auf der Webseite der Botschaft veröffentlicht wurde. Der Titel: „Einige Fakten zum Thema Xinjiang (Uyghuristan)  „.

Es gebe (angeblich) keine Internierungslager in Xinjiang (Uyghuristan), heißt es dort, lediglich Aus- und Fortbildungseinrichtungen für berufliche Fertigkeiten. Damit werde den Menschen geholfen, die sich von „terroristischem und extremistischem Gedanken haben verleiten lassen, aber noch keinen tatsächlichen und ernsthaften Schaden verursacht haben“. Ziel sei, sie „auf den richtigen Weg zurückzubringen, ihnen Schutz vor Terrorismus und Extremismus zu gewähren, eine sichere Beschäftigung zu schaffen (und) die Lebensqualität (angeblich) zu verbessern“, damit die Uiguren (Uyghuren) „ein glückliches Leben“ führen könnten.

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Quelle: https://www.dw.com/de/wie-china-gefangene-uiguren-zwingt-sich-selbst-zu-bezichtigen/a-53680497

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