Die Zivilgesellschaft ist nicht machtlos

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Die Demonstranten in Hongkong haben ihr Ziel vorerst erreicht. Das Auslieferungsgesetz, das Pekings Einfluss erweitert hätte, liegt auf Eis. Doch sie protestieren weiter für ihre Freiheit. Ihr Kampf ist auch eine Mahnung an den Westen.

David hat Goliath vorerst in die Schranken gewiesen. Auf Druck Hunderttausender Hongkonger hat die von Peking kontrollierte Regierung der Sonderverwaltungszone ein Gesetz auf Eis gelegt, das erstmals die Auslieferung von Menschen aus Hongkong nach China möglich gemacht hätte. Fast hundert Stunden ununterbrochener Demonstrationen haben gezeigt: Die Zivilgesellschaft ist nicht machtlos. So einfach machen die Menschen im demokratischen Hongkong es Peking nicht, die ihnen garantierten Freiheiten zu beschneiden. Bis 2047 soll die 1997 geschlossene Vereinbarung mit der Formel „Ein Land, zwei Systeme“ gelten.

Es kursierte in den vergangenen Tagen die Sorge vor einem zweiten Tiananmen-Massaker, einem Eingreifen der chinesischen Volksarmee gegen die Demonstranten. Die amerikanische, chinesischsprachige Website Boxun meldete am vergangenen Sonntag, Chinas Präsident habe intern gesagt, die Lage in Hongkong könne außer Kontrolle geraten. Die Armee warte auf Anweisungen der Partei. Hongkongs Polizeichef sagte am Mittwoch auf die Frage nach einem etwaigen Militäreinsatz, „derzeit“ habe seine Polizei genügend Kräfte. „Derzeit“: Das Wort hing wie eine Gewitterwolke über Hongkongs Straßen, und über den künftigen Beziehungen des Westens zu China.

Ein Einmarsch wäre ein Völkerrechtsbruch gewesen, das Ende vieler Gewissheiten und noch zahlreicherer Illusionen. Hongkong wäre als Finanzplatz erledigt, und in Taiwan, das China als abtrünnige Provinz betrachtet, hätte die Unabhängigkeitsbewegung Oberhand gewonnen. Anfang Januar finden dort Präsidentenwahlen statt.

Manche, in Peking ebenso wie im Westen, haben vielleicht geglaubt, die Aufregung über ein etwaiges Eingreifen würde sich schnell legen. 1989 hatte der Westen Deng Xiaoping ja auch über geheime Kanäle signalisiert: Das Tiananmen-Massaker berührt unsere Beziehungen nicht. Aber damals wollte der Westen Chinas Wirtschaftsreformer unterstützen, zu denen es Deng immer noch rechnete. Damals gab es auch kein Internet mit seiner rasant aktivierbaren Mobilisierungsmacht.

Heute sitzt ein politischer Gegenreformer auf dem Pekinger Thron. Ein Mann, der vieles zertrümmert, was ihm im Weg ist. Chinas Präsident Xi Jinping wurde zwar während der Kulturrevolution genauso verfolgt wie Millionen andere Bürger. Xi wird demnächst auch westliche Investitionen weiter erleichtern. Aber politisch verschärft er die Diktatur Tag für Tag weiter.

Der Westen, besonders die Wirtschaft, tat anfangs so, als wisse man nichts davon. Solches Wegschauen ist auch brandgefährlich für die Firmengewinne. Hat der Westen die Lektion von Südafrika vergessen? Trotz aller Investitionsanreize des Apartheidregimes, oder vielmehr gerade wegen ihnen, schlug damals plötzlich die Weltstimmung um. Jede Firma, die die Apartheid zu unterstützen schien, bekam weltweit Probleme – und das noch ohne die tausendfache Verstärkerwirkung des Internets. Das Apartheidregime behauptete, seine Rassentrennung diene der Stabilität und dem Kampf gegen Terrorismus. Dasselbe behauptet heute Peking mit Blick auf die gewaltsame Assimilierung der Uiguren (Uyghuren).

Zu Apartheidzeiten gab es noch keine Satellitenbilder für jedermann. Heute gibt es sie, und sie verbreiten sich in Windeseile – die Bilder der eingeebneten Friedhöfe, der abgerissenen Moscheen. Ebenso Anzeichen für Internierungsgefängnisse, die in eben dem rasanten Tempo aus dem Boden sprießen wie neue Bahnhöfe und Autobahnkreuze.

Macht der Westen sich klar, welche Wucht eine weltweite Internet-Empörung über China bekommen kann? China zum wirtschaftlichen und strategischen Hauptpartner zu erklären kann heißen, im Handumdrehen am Internetpranger der Weltkonsumenten und der Weltzivilgesellschaft zu stehen und dort nicht mehr so rasch wegzukommen. Es geht hier schließlich um ein Land, das unsere Grundwerte missachtet, das Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit auch in Hongkong auszuhöhlen versucht.

Es ist eine Illusion zu glauben, man könne die Bahnhöfe bewundern und die Gefängnisse ignorieren. Der Historiker Heinrich August Winkler hat in einem Aufsatz von 2013 in der Zeitschrift „Internationale Politik“ geschrieben, eine moralisch indifferente deutsche Außenpolitik könne, zu Ende gedacht, in ein verwerfliches „Recht auf Wegsehen“ münden, mit dem Deutschland sich die Welt schönredet. Recht hatte er, und solches Wegschauen wäre nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Blindheit.

Es wäre schön, wenn man wüsste, dass die westlichen Wirtschaftsführer jetzt nicht etwa Hongkongs Kundgebungen naserümpfend als Störfaktor betrachteten. Es wäre vielmehr schön, wenn jetzt Politiker und Unternehmer ihren ganzen Einfluss geltend machen, um die Verfolgung der Uiguren (Uyghuren) zu stoppen, gesichtswahrend für Xi, aber trotzdem mit aller Entschlossenheit – und das aus moralischen Gründen ebenso wie aus nüchternem Eigeninteresse.

China sitzt bei dieser Frage nicht am längeren Hebel. Es braucht die eigene Exportwirtschaft noch viel mehr als der Westen die seine, es braucht Europas Märkte, falls der Handelskrieg mit Trump weiter eskaliert. Wenn das Projekt Neue Seidenstraße wegen der Missachtung der Menschenrechte bei den Uiguren (Uyghuren) kippt, steht für Xi weitaus mehr auf dem Spiel als für Angela Merkel oder für Volkswagen. Pekings Rückzieher in Hongkong steht im besten Fall dafür, dass das Politbüro den Blick auf diese moralische Dimension der Weltpolitik nicht völlig verloren hat.

Es ist deshalb Zeit für den Abschied von Illusionen. Es ist eine Illusion zu glauben, für deutsche Firmen sei China ein Land wie jedes andere, nur ohne die lästig zeitraubenden Entscheidungswege der Demokratie. Es ist eine Illusion zu glauben, man dürfe als Politiker China nur mit Samthandschuhen anfassen, weil sonst gefährliche wirtschaftliche Folgen drohten. Realistisch ist es, von einer anderen Annahme auszugehen. Erst verschwinden die Menschenrechte – und dann die Gewinne.

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Quelle: https://www.welt.de/politik/ausland/article195315217/Proteste-in-Hongkong-Die-Zivilgesellschaft-ist-nicht-machtlos.html

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