Ainurs langer Weg

Ein uigurisches (uyghurisches) Mädchen aus China wird von seinen Eltern getrennt, als es erst zehn Jahre alt ist. Inzwischen lebt die heute 18-Jährige im Landkreis Ebersberg

Ainur ist heute 18, und aus dem Mädchen, das als Kind weggerissen wurde von seiner Familie, ist eine junge Frau geworden, die sehr auf ihre Erscheinung achtet. Visagistin will sie werden, das ist ihr klares Ziel. Kosmetik, Schminke, Schönheit sind ihre Welt – aber damit ist sie wohl eine sehr typische Achtzehnjährige,obwohl ihr Leben aus den Fugen geraten war. Ainur ist Uigurin (Uyghurin) und gehört damit zu einem Volksstamm, der in China eine Minderheit stellt. Fast neun Zehntel der Uiguren (Uyghuren) leben in China, viele davon in Chinas Nordwesten, wo auch Ainur herkommt. Die Uiguren (Uyghuren) sind muslimischen Glaubens und unterscheiden sich allein deshalb schon von ihren chinesischen Nachbarn. Als Turkvolk sehen sie aber auch noch anders aus.

Am Frühstückstisch hat Ainur ihre Familie zum letzten Mal gesehen. Beim Frühstück an einem Sonntag vor acht Jahren. Seither hat sie von ihren Eltern nichts mehr gehört. Kein Brief, kein Telefonat, keine E-Mail. Nein, sie wisse nicht, ob sie noch leben, sagt Ainur (Name geändert). Äußerlich bleibt sie dabei völlig unbewegt. Doch ihre tiefbraunen Augen, eingerahmt von sorgsam getuschten unendlich langen Wimpern, fixieren ihr Gegenüber bei diesen Worten. Als suche sie Halt mit ihren Augen, als wüsste sie selbst nicht genau, was sie nun anfangen soll mit diesem Satz.

An jenem Tag im Sommer 2007, der das Schicksal von Ainurs Familie so nachhaltig beeinflussen sollte, hatte in ihrer Heimatstadt Ürumqi wieder einmal eine Demonstration stattgefunden. Die Polizei setzte Tränengas ein, Demonstranten wurden verprügelt, es gab Tote und eine Explosion. So erinnert sich Ainur. Ihre Familie habe nichts damit zu tun gehabt, „sie waren gar nicht bei der Demonstration, keiner von uns“, erzählt die junge Frau. Doch weil Ainurs Eltern, der Vater Taxifahrer, die Mutter Hausfrau, eben einer Volksgruppe angehören, die in China nicht wohl gelitten ist, sollte das allein ausreichen, um die Familie auseinander zu reißen. „Sie verbieten uns alles. Sie wollen, dass wir unsere Sprache nicht sprechen, sie verbieten uns, ein Kopftuch zu tragen, sie wollen uns dort nicht haben“, erklärt Ainur. Und erzählt dann von jenem Sonntag. „Wir saßen um den Tisch, mit meinem Bruder, ich weiß, es war ein Sonntag, deshalb waren alle da. Und dann hat es an der Tür gekracht und sie sind mit Gewehren gekommen und haben meine Eltern mitgenommen. Ein anderer Mann nahm meinen Bruder und mich eine Frau.“
Anschließend sei sie in eine Art Gefängnis gekommen, wo sie einige Zeit bleiben musste. „Da wäre ich bis zu meinem Tod geblieben“, sagt das Mädchen. Zu ihrem Glück sei der Leiter der Einrichtung ein Freund ihres Vaters gewesen, der sie mit der Ausrede, sie bekomme eine Woche Urlaub, aus der Internierung holte. Er brachte sie zunächst zu einem Bekannten in Hongkong, von dort aus wurde sie zu einem Hotel in Malaysia geschickt. „Dort musste ich dann warten, so neun Tage oder so. Sie haben mir immer etwas zum Essen gebracht, und ich habe da in einem Zimmer gewartet.“ Die nächste Station war die Türkei. Wieder ein Hotel. Wieder warten. Dann sei ein anderer Mann gekommen, der die Zehnjährige in ein Flugzeug nach München setzte mit der dringenden Aufforderung, ihren chinesischen Reisepass wegzuwerfen, sobald sie am Flughafen angekommen sei. „Sonst schicken sie dich zurück“, hat er gesagt, „wirf den Pass weg!“ Das habe sie getan. „Ich bin ausgestiegen, zur Flughafentoilette gegangen, und habe den Pass weggeworfen.“ Danach suchte sie einen Polizisten, der sie mitnahm. Eine Übersetzerin wurde gerufen, und vom Flughafenzoll aus ging es für das Kind dann zum zuständigen Jugendamt.
Inzwischen lebt sie in einer betreuten Wohngemeinschaft im Landkreis Ebersberg, Sozialpädagogen eines Trägers im Nachbarlandkreis kümmern sich. Ihren Bruder immerhin hat sie inzwischen gefunden, er hat es ebenfalls nach München geschafft und hier mittlerweile eine Familie gegründet. Ainur hat zunächst eine Übergangsklasse, dann die Mittelschule besucht und ihren Abschluss gemacht. Vor kurzem hat sie eine Lehre zur Friseurin begonnen, die sie braucht, bevor sie eine Ausbildung zur Visagistin machen kann. Nächstes Jahr will sie sich selbständig machen, eine kleine Wohnung wäre ihr Traum. Vom Staat bekommt sie 700 Euro als Starthilfe für eine Einrichtung, eine Spende könnte ihr helfen, sich einen Laptop anzuschaffen. In ihrer früheren Heimat zu leben, nein, das könne sie sich nicht mehr vorstellen. Aber eines Tages zurückkehren und ihre Eltern suchen, das will sie unbedingt.
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Quelle:http://www.sueddeutsche.de/muenchen/ebersberg/ebersberg-ainurs-langer-weg-1.2787933

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