Chinas inneres Ausland

Ein uigurischer (uyghurischer) Basar. Das öffentliche Leben, wie hier in Kashgar, spielt sich in Xinjiang (Uyghuristan) oft auf der Straße ab. Foto: Inna Hartwich

Ein uigurischer (uyghurischer) Basar. Das öffentliche Leben, wie hier in Kashgar, spielt sich in Xinjiang (Uyghuristan) oft auf der Straße ab. Foto: Inna Hartwich

In Xinjiang (Uyghuristan), ganz im Westen der Volksrepublik, kommt es immer wieder zu Anschlägen. Der Terror greift mittlerweile aufs ganze Land über. Warum? Tausende Kilometer von Peking entfernt hat jeder seine eigene Wahrheit. Eine Reise in ein unchinesisches China.

Alim Khan* hat mit dem Besuch nicht gerechnet. Wer komme in diesen „sensiblen Zeiten“ schon nach Xinjiang (Uyghuristan), wie die Regierung die angespannte Lage nach den Anschlägen in der fernen Westprovinz nennt? Nicht einmal die 500 Yuan, umgerechnet 60 Euro, die die Pekinger Führung jedem chinesischen Xinjiang (Uyghuristan)-Touristen zahlt, greifen noch. Groß ist die Angst der Chinesen. Zwei von ihnen stehen dennoch auf der Terrasse von Alim Khan und schauen ihm beim Arbeiten zu. Der Mann in der zerrissenen schwarzen Hose redet nicht, vielleicht ist ihm sein Mandarin nicht geheuer. Viele in Xinjiang (Uyghuristan) sprechen – der rigiden Sinisierungspolitik des Staates zum Trotz – kein Chinesisch. Vielleicht ist er einfach nur hocherfreut, dass doch noch jemand zu ihm kommt, in seine luftige Werkstatt, mit gelb-roten Teppichen ausgelegt, multifunktional als Arbeitsstätte, Wohnzimmer, Besucherraum gestaltet.

Er hebt seine Schiebermütze, wischt sich über die Stirn. Es ist heiß in der Stadt, noch heißer an seinem selbst gebauten Ofen. Steine köcheln in der Schüssel, auch Metalle. Der Mittvierziger rührt in der gelben Masse, später wird er damit seine Töpferware bemalen. So wie es auch sein Bruder tut, wie es sein Vater getan hat, sein Großvater, der Urgroßvater, und ja, auch der Ururgroßvater. In der fünften Generation führt der Uigure (Uyghure) die Mini-Werkstatt, hier im alten Teil Kashgars, in seinem Lehmhäuschen am Ende einer engen, verwinkelten Gasse. Tassen, Krüge, Vasen türmen sich im Holzregal. Alim Khan wohnt hier, hier verdient er auch das knappe Geld zum Überleben. Wie lange, das weiß niemand in der Stadt. Vielleicht ist sein Haus bald Bauschutt, wie er hier alle paar Meter zu finden ist. Verschwunden mit dem Hauch von früher, mit der Quirligkeit der vergangenen Jahrzehnte, Jahrhunderte gar, ein Nichts auf dem immer dunkler werdenden Hügel, wo Bulldozer die manchmal 200 Jahre alten Häuser wegreißen, wo Straßenzüge wegbrechen und in der Ferne, gleich über den See vor Alim Khans Holzterrasse, immer mehr Wolkenkratzer in den Himmel streben, in blau und grau, rosa und gelb, wie überall in China.

Kashgar, die Oasenstadt. Einst einer der wichtigsten Orte auf der Seidenstraße, diesem Geflecht aus Karawanenrouten, die bis ins 16. Jahrhundert hinein den Osten an den Westen näherrücken ließen. Eine Stadt, in der Anfang des 20. Jahrhunderts das Emirat Ostturkestan entstand, nationalistisch, progressiv, pantürkisch. Es überlebte nicht lange und jagt Peking bis heute eine ungeheure Angst ein. Seit die KP die Region 1949 dem sowjetischen Protektorat entrissen hat, krallt sie sich an das strategisch wichtige Randgebiet, in dem einst fast nur Zentralasiaten lebten, mittlerweile aber knapp die Hälfte der Bevölkerung Han-Chinesen sind. Separatistische Bestrebungen, die es in Xinjiang (Uyghuristan) durchaus gibt, bekämpft Peking mit eiserner Faust.

Kashgar ist eine riesige Baustelle. Die Häuser werden abgerissen und neu aufgebaut. Foto: Inna Hartwich

Kashgar ist eine riesige Baustelle. Die Häuser werden abgerissen und neu aufgebaut. Foto: Inna Hartwich

Kashgar, fast 4500 Kilometer von Chinas Hauptstadt weg, dafür jeweils nur 200 von der Grenze zu Kirgistan und Tadschikistan, war schon immer ein Mittelpunkt uigurischen Lebens, ein architektonisches Kleinod mit einem undurchsichtigen Gassen-Labyrinth und lebhaften Basaren. Ein Stück zentralasiatischer Geschichte und Kultur, der nach und nach der Garaus gemacht wird, weil Kashgar wiederauferstehen soll – als gewaltiges Wirtschaftszentrum, voller Fabriken, Innovationszentren, Hotels, Stadien, Dynamik. Als pulsierende Ader des Welthandels, mitten im neu zu schaffenden „Seidenstraßen-Wirtschaftsgürtel, wo die Rauchschwaden aus der Wüste steigen“, wie Chinas Präsident Xi Jinping sein ehrgeiziges Projekt gern beschreibt.

Wären da nur nicht die Minderheiten, die Kasachen, die Tadschiken, die Kirgisen, die Usbeken, die Hui. Vor allem aber die Uiguren (Uyghuren), das muslimische Volk, rund acht Millionen Menschen, die ihre Turksprache mit arabischen Buchstaben schreiben. Nicht, dass sie etwas gegen einen Aufschwung in ihrer als autonom bezeichneten Provinz hätten – würde er sie denn erreichen. Viele fühlen sich immer weiter abgedrängt, als Fremde im eigenen Land, nicht als chinesische Staatsbürger. Und manchmal nicht einmal mehr als Herr im eigenen Haus.

Der moderne Teil Kashgars rückt immer näher - mit einem Gesicht wie überall in China. Foto: Inna Hartwich

Der moderne Teil Kashgars rückt immer näher – mit einem Gesicht wie überall in China. Foto: Inna Hartwich

Wie die Altstadt von Kashgar in Zukunft aussieht, das sagt die Regierung. Erdbebensicher sollen die Häuser sein, resistent gegen Feuer. Straßen müssen verbreitert werden, die Lehmwände weichen Betonpfeilern. Die große Modernisierung zieht ein in die geschichtsträchtige Oase. Ein Erdbeben hat es in Kashgar nie gegeben. Aber es könnte vielleicht einmal sein. Es könnte auch ein Großfeuer geben. Eine Überschwemmung. Man will hier für alle Eventualitäten gewappnet sein. Also reißt man ab und baut teilweise neu, mit angeklebten Dekorationen aus Lehm. Hauptsache, die Kulisse stimmt. In Kashgar ist das nicht anders als anderswo im Land.

Die Renovierung an sich finden die Altstädter gar nicht schlecht. Endlich keine stinkenden Kloeimer mehr auf dem Dach, endlich Wasser im Haus. Das Geld für den Umbau aber fehlt oft, 70 Prozent der Kosten bleiben beim Hausbesitzer, der nach dem Umbau nur noch ein halber Eigentümer ist. Die andere Hälfte gehört dem Staat. Wer die Kosten nicht tragen kann, muss umziehen – in einen Mehrgeschosser am Stadtrand. Der lebhafte Dorfcharakter, wo sich das Leben meist draußen abspielt, sei da weg. Das bedauern vor allem die Alten, doch sie beklagen sich nicht, wollen keinen Ärger. Niemand will Ärger in Xinjiang (Uyghuristan). Doch er ist da, täglich, stündlich. Er taucht auf im Hotel, wenn ein Uigure den Preis des Zimmers falsch verstanden hat.

Oder die Han-Chinesin an der Rezeption ihn falsch genannt hat. „Verstehen Sie mich?“; schreit der Uigure dann. „Nein, ich verstehe Sie nicht“, säuselt die Han-Chinesin. Sie finden buchstäblich keine gemeinsame Sprache, fühlen sich beide im Recht, beide unwohl. Es sind Kleinigkeiten, die oft ausarten. Die zur Ausgrenzung führen und Vorurteilen. „Die Han-Chinesen rauben unsere Region aus, nehmen alles, was wir haben, unser Öl, unser Gas, unsere Baumwolle“, sagen Uiguren (Uyghuren) oft. „Die Uiguren (Uyghuren) sind faul und stinken. Sie dürfen so viele Kinder haben, wie sie wollen, für sie gibt es Quoten an den Unis, in den Fabriken, das ist doch ungerecht“, sagen die Han-Chinesen. Die Arbeitgeber, vor allem die kleinen Unternehmen, überlegen sich allerdings zwei Mal, ob sie einen Uiguren (Uyghuren) einstellen. Zu mühsam sei der Verwaltungskram für sie, der Staat verlangt Berichte über jeden einzelnen uigurischen (uyghurischen) Arbeiter, Schweinefleisch-loses Essen und Gebetsräume seien ebenfalls zu bedenken. Vielen ist das zu umständlich, sie stellen lieber gleich einen Han ein.

Zwei Wahrheiten

Es sind stets zwei Versionen und zwei Wahrheiten. Seit 5. Juni 2009 sind diese noch schwerer herauszufinden. Das Datum ist eine regelrechte Zäsur. Tausende Uiguren (Uyghuren) hatten vor fünf Jahren im Stadtteil Erdaoqiao von Urumqi, knapp 1500 Kilometer nördlich von Kashgar, zunächst friedlich demonstriert. Im Süden Chinas waren zwei Uiguren (Uyghuren) bei Ausschreitungen in einer Spielzeugfabrik – wohl wegen eines Gerüchts, sechs Uiguren (Uyghuren) hätten eine Han-Chinesin vergewaltigt – getötet worden. In Urumqi protestierten die Menschen daraufhin für die Aufklärung des Falls, die Regierung aber sprach sogleich vom Aufruhr. Und er begann. Am Ende gab es knapp 200 Tote und 2000 Verletzte. Die meisten von ihnen Han-Chinesen. Seitdem hat sich Urumqi, wie kaum eine andere Stadt in China, in einen hochgesicherten Käfig verwandelt. Gepanzerte Wagen patrouillieren durch die Stadt, Polizisten sind zu Fuß, auf E-Mofas, in mit Metall verstärkten Autos mit einem Radar auf dem Dach unterwegs. Kaum eine Moschee, eine Schule, ein Park, die nicht mit bewaffneten Soldaten umstellt wären. Ein Generalverdacht hat sich über die Provinz gelegt, die Suche nach Separatisten, Terroristen, Extremisten hat die KP zu einer der Hauptaufgaben erklärt. Den Kampf gegen „drei Übel“ nennt sie das, ein Einsatz für die „soziale Stabilität“.

Urumqi eilt in die Moderne. Foto: Inna Hartwich

Urumqi eilt in die Moderne. Foto: Inna Hartwich

Viele Uiguren (Uyghuren) halten den Mund und nehmen das Leben hin, wie es eben kommt. Mit ständigen Kontrollen, mit dem Herunterreißen von Kopftüchern und manchem Verbot, in die Moschee zu gehen. Einige aber rasten aus. Schnappen sich eine Axt und schlagen damit in einem Internetcafé wild um sich. Greifen zum Messer und stechen auf einem belebten Markt auf jeden ein, der ihnen in die Quere kommt. Basteln Bomben und lassen sie hochgehen. In Urumqi oder Peking, mittlerweile quer durchs Land. Mehr als 90 Tote sind es in weniger als neun Monaten. Nach Gründen zu suchen, betrachtet die KP als Sympathie für die Angreifer.

„Nur die wirtschaftliche Entwicklung in Xinjiang (Uyghuristan) schafft Stabilität“, sagt Sun Hui an einem langen Holztisch an der Universität von Urumqi. Die Professorin für Wirtschaft und Verwaltung blättert durch einen Stapel ihrer Forschungsberichte, rattert Zahlen herunter. „2010 lag das BIP bei 10,6 Prozent, 2011 und 2012 bei 12 Prozent, 2013 bei 11,1.“ Das Wachstum ist höher als im Landesdurchschnitt. Auch die Industriezahlen sind es. Die Autobranche ist in die Provinz gezogen, der Handel – mit Zentralasien, Iran, Saudi-Arabien, der Türkei, Indien, Pakistan und Russland – entwickele sich prächtig, die von der Regierung propagierte Seidenstraße werde noch mehr Fortschritt nach Xinjiang (Uyghuristan) bringen. Doch bringt dieser Fortschritt auch die erhoffte Stabilität? Sun Hui ist plötzlich wortkarg, versteckt sich hinter den Aussagen amerikanischer Professoren, lässt durchblicken, dass Wirtschaft allein vielleicht doch nicht alles sei, dass auch die Politik eine gewisse Rolle spiele. „Aber das sage nicht ich.“

Zentralasien pur: Emin Khoja-Minarett in der Oasenstadt Turpan. Nur die Touristen kommen kaum noch. Foto: Inna Hartwich

Zentralasien pur: Emin Khoja-Minarett in der Oasenstadt Turpan. Nur die Touristen kommen kaum noch. Foto: Inna Hartwich

Die Ruhe will nicht ankommen in dieser Provinz, seit Chinas Kaiser Shunzhi sich Mitte des 17. Jahrhunderts vornahm, Frieden in das damalige noch mongolische Khanat zu tragen. Bis heute leben Uiguren (Uyghuren) und Han-Chinesen wie in zwei Welten, nebeneinander, nur dort überkreuzend, wo es nötig ist. Bei der Verwaltung, der Bank, oft auch bei der Polizei. „Die Beamten sind nutzlos, gar kontraproduktiv, weil sie jeden kleinen Streit als großen Terrorangriff interpretieren.“ Das sagt kein enttäuschter Uigure (Uyghure), das sagt ein Han-Chinese. Yang Xiaoyun* war vor zehn Jahren aus einer Kleinstadt in Zentralchina nach Xinjiang (Uyghuristan) gekommen. Es war wie „Auswandern in ein anderes Land, nichts wusste ich darüber“, sagt er bei einem Spaziergang durch Urumqi. Es soll nicht auffallen, was er über den Alltag zwischen der Mehrheit und der Minderheit erzählt. Die Angst sitzt tief. Deshalb will kaum jemand seinen richtigen Namen nennen, deshalb sagen selbst einige Professoren Gespräche ab, „wegen zu viel Ärger danach“. Die Polizei ist hier der „große Bruder“, der überall sein Auge drauf hat. Auf die Brotverkäufer an den Marktständen, auf öffentliche Plätze und selbst auf ausländische Journalisten, die er zur Not auch nachts aus Hotels schmeißen lässt, denn „hier sage ich, was geht und was nicht.“

Der Konflikt ist alltäglich auf den Straßen von Xinjiang (Uyghuristan). Die Tankstellen sind mit Stacheldraht überzogen und mit metallenen Wegsperren umstellt. Alle Passagiere müssen aussteigen, der Fahrer lässt seine Passdaten in ein Heft eintragen, macht den Kofferraum auf und darf erst dann zur Tanksäule fahren. Benzin und Diesel sind rationiert. Checkpoints ziehen sich durch die Städte, stehen hinter Mautstellen an der Autobahn. Die Menschen steigen aus den Bussen, aus den Autos, trotten mit den Koffern zu den Kontrollpunkten, halten ihre Ausweise an eine schwarze Säule, trotten zurück zum Wagen. „Ich hasse das, ich hasse die Polizei, hasse die Chinesen“, sagt ein 17-jähriger Uigure (Uyghure), als er aus dem hochgesicherten Häuschen vor den Toren Urumqis hinaustritt. Es ist ein kurzer Moment, der klar macht, wie schnell die Energie des Jugendlichen, der gerade seine Zukunft plant, sich auch in falsche Bahnen lenken ließe. Viele in der Region radikalisieren sich, verbotene Koranschulen gewinnen an Zulauf, auf den Straßen gibt es immer mehr vollverschleierte Frauen. „Je mehr man uns verbietet, desto mehr missachten wir die Verbote“, hatte ein Uigure (Uyghure) in Kashgar gesagt. In Urumqi sagt Yang Xiaoyun: „Unsere Regierung will, dass die Uiguren (Uyghuren) ihr dankbar sind – für das bessere Leben, den Aufschwung, die Jobs. Aber sie fragt gar nicht, was Uiguren (Uyghuren) eigentlich unter einem ,besseren Leben‘ verstehen.“

* Name geändert

http://www.fr-online.de/politik/china-chinas-inneres-ausland,1472596,27683906.html

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